„Wofür wir uns schämen“
„Tomas Blum hat mit seinem Debütroman ein Buch geschrieben, wie ich es nie vorher gelesen habe. (…) Nach nur wenigen Seiten habe ich das Buch verschlungen und in einem Rutsch beendet. (…) Eine unglaubliche Überraschung meinerseits (…) und absolut empfehlenswert!!“
Bücherblog von Lale liest
Die Ansagerin ist eine attraktive Frau. Als Junge stelle ich mir vor, ja, ich wünsche es mir, die beiden Frauen sind meine Eltern, und ich wachse bei ihnen auf. Wie anders wäre mein Leben verlaufen. Sie hätten mich bestimmt geliebt. Aber sie kamen mir auch hysterisch vor, das denke ich schon als Kind, auch wenn ich das Wort Hysterie noch nicht weiß, und Hysterie ist erdrückend, die Männer hängen es den Frauen an, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Dann stehen sie da, die Frauen, mit einem angehängten Wort. Am Ende wäre so ein doppelter Norman Bates aus mir geworden, wenn die Ansagerin auch noch stirbt, die Mama-und-Papa Ansagerin, zwei tote Frauen auf einen Mann, eine Frau ist genug, um verrückt zu werden. Ich habe Angst. Es ist genau diese Sorte von Angst, diese Angst eines Mannes, über die kein Mensch spricht.
Noch einmal greife ich nach dem Joint in ihrer Hand und stelle fest, es verändert nichts. Es wird sich niemals etwas ändern. Bin ich eigentlich der einzige Mensch auf der Welt, der in der Vielfalt nicht die Möglichkeiten sieht, sondern bloß Risiken wittert? Glücklich ist einer wie ich nur, wenn er ein Stück Chaos zu einer Liste bündeln kann, die er peu à peu mit Häkchen versieht. War ich schon immer so? Doch die gefühlte Wetterlage in meinem Kopf schlägt um. Ein Hochdruckgebiet mit dem Namen der Kollegin nähert sich. Selbst wenn meine Befürchtungen zutreffen, soll sie doch ihre Chancen nutzen. Sie muss blöd sein, wenn sie es nicht tut. Sie ist vom selben Schlag wie ich. Dagegen ist nichts zu sagen. Einen Moment lang gebe ich mich dem Schubs hin, den der Lungenzug verursacht. Ich schließe die Augen und lege den Kopf auf meine Knie. So ist es schön. Ich höre ihren Atem neben mir, wie sie inhaliert und die Luft wieder ausbläst. Dann spüre ich ihren Kuss auf meiner Wange und erschrecke.
Enttäuscht senkt sie die Augenlider und küsst dich dennoch leidenschaftlich als Vorschuss für die Zeit, die da kommt, und wartet, bis du wieder im Auto sitzt und winkt dir, sie winkt noch, als sie nur ein Spiegelbild in deinem Rückspiegel ist. Du hältst den Wagen hinter der nächsten Ecke, dort wird soeben ein Parkplatz frei, darauf stoppst du den Motor und beginnst augenblicklich zu weinen, du flennst wie ein Kind, du weinst, und das ist keine Übertreibung, wie du in deinem gesamten Leben noch nie geweint hast. Jetzt verstehst du diese Müllers und Meiers, diese Halbrocker mit ihren schnulzigen Gefühlen, die Mädchen sind Sensationen, man will ja überhaupt nichts anderes mehr haben als Gefühle, man will die Kieselsteine unter den Fußsohlen fühlen und das Flusswasser, wie es kühl in die Ohren eindringt, man will die Lippen fühlen zwischen anderen, man will fühlen, wie eine andere Hand in die eigene greift, sie waren fortwährend auf der Suche nach Sensationen, dahinter suchten sie erst gar nicht, weil das einfacher so geht, und blieben die Gefühle aus, so holte man sich den Fahrtwind in die Haare, auf helmlosen und rasanten Touren übers Land.
„Gregor [die Hauptfigur] lässt daran glauben, dass Emotionen der Kraftstoff des Lebens sind. Ich lese Gefühle übersatt.“
Eine Leserin
Der Körper und die Liebe sind in tausend Jahren nicht neu erfunden worden. Neu ist das Design. Dass es Produktverpackungen dafür gibt und Beschriftungen. Neu ist, dass man zwischen tausend Verpackungen wählen muss. Dass man sich dauernd entscheiden muss. Früher hieß Tausend für immer. Man verschickte tausend Küsse. Kein Mensch wollte je so weit zählen. Jetzt fahren wir mit hundert Sachen auf der Landstraße, bald werden Menschen Tausend fahren. Wir fahren hierhin, und der Verstand weiß, wir könnten auch dorthin fahren, oder dorthin. Wohin auch immer. Du hast die Wahl. Das ist also die Freiheit der Erwachsenen.

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